ich gehe arbeiten. in einer klinik. in einer klinik für kranke kinder. psychiatrie. klapse. irrenanstalt. nicht meine worte. ich passe auf kinder auf, spreche mit eltern, versuche kindern einen alltag, einen halt, eine perspektive zu geben. klappt nicht immer, manchmal schon. ich spiele mit kindern, ich rede mit kindern, ich bin streng, nett und lustig. die meisten mögen mich. ich mache das nicht alleine, ich habe kollegen. oft mache ich das gerne. manchmal ist das schwierig und heute geht es um tobi.
tobi ist sieben. tobi ist ganz oft ein ganz netter junge. er spielt gerne, am liebsten draußen. tobi baut sandburgen wie ein weltmeister. und hat dabei die tollsten ideen. wenn er eine sandburg baut, dann dürfen alle ihm helfen. solange er der boss bleibt. tobi ist mit leib und seele dabei. manchmal allein, manchmal mit mir, manchmal mit wem anderes. und wenn ihm alles zu viel wird, dann wirft er die schippe nach den anderen, schreit laut über den spielplatz und will am liebsten einfach nur festgehalten werden. so lange, bis alles wieder gut ist. dann will er wieder spielen.
tobi kennt das bei uns. er weiss, wie das abläuft. er weiss, was passiert, wenn er mit stühlen schmeisst. und trotzdem macht er das. fast jeden tag. tobi lebt bei seinem papa. sein papa ist schon etwas älter und muss viel arbeiten. an den meisten tagen ist papa schon vor schulbeginn aus dem haus. und erst am nachmittag sehen sich die beiden. mal für zwei stunden, vielleicht auch mal für drei stunden. aber nur, wenn papa zeit hat. papa hat viel um die ohren, tobi kennt es nicht, wie es ist, wenn sich jemand um ihn kümmert. er schaut abends fern, isst allein zu abend. tobi wäre in jeder kinder-wg der held, wenn es ums brote schmieren geht. nur tobi möchte wie jeder siebenjährige einfach mal ein ganz normales kind sein. mit erwachsenen spielen, das isses. sich darauf verlassen können, dass wer da ist, wenn er wen braucht. die erwachsenen kommen aber nur, wenn tobi laut ist. wenn tobi unsinn macht. dann, nur dann kommen sie und kümmern sich. das hat tobi gelernt. und das macht ihm sein leben so schwer.
in der schule ist es komisch, wenn ein kind ständig schlägt und schreit und nicht lernen will. diese kinder haben dann keine freunde, weil sie immer ärger haben. niemand mag ärger. und niemand mag geärgert werden. diese kinder sind dann noch mehr allein. allein gelassen.
tobi kennt das bei uns. er weiss, dass jemand kommt, wenn er mit stühlen schmeisst. er weiss, dass ihn jemand festhält, wenn er schlägt. er weiss, dass ihn jemand hält, wenn er tritt. tobi ist nicht dumm. tobi will gehalten werden. und wehe, ich lasse ihn los. dann tritt er noch mehr nach mir. niemand soll ihn loslassen. nach einiger zeit ist alles wieder gut. dann will tobi seine hausaufgaben machen. aber nur so lange, bis ihm alles mal wieder zu viel wird. die erste klasse ist schwer. für manche kinder zu schwer. wörter lesen mag tobi gar nicht. in mathe ist er aber ganz gut. mit zahlen kennt er sich aus. er freut sich, wenn wir gemeinsam ein richtiges ergebnis rausbekommen. gemeinsam. alleine macht das keinen spaß. "ich brauche hilfe, kommst du?"
tobi lernt gerade, dass wir immer für ihn da sind. dass beziehung immer da ist. dass er nicht mit stühlen schmeissen muss, damit jemand kommt. wir sind ja schon da. die ganze zeit. auch wenn tobi lieb ist. das versteht tobi aber noch nicht so gut. er geht jeden abend wieder nach hause zu papa. und der ist nicht da. nicht immer, nur manchmal. und wenn tobi zu uns kommt am morgen, dann hat er manchmal in seiner kleidung geschlafen. zähne putzen tut er eigentlich nie. warum auch? warum muss man nochmal zähne putzen? wer erklärt mir das? und wo ist überhaupt mein schlafanzug?
wenn tobi geht, wenn er nicht mehr zu uns kommen kann, weil für jeden die zeit hier einmal endet, weiss niemand, was mit ihm passieren wird. papa wird weiter arbeiten müssen. papa wird weiter viel zu tun haben. wer weiss, ob papas freundin das alles dann noch mitmacht. die schule wird ihn nicht wollen. tobi wird wieder merken, dass niemand für ihn da ist, wenn er jemanden braucht. ich weiss, dass tobi jemanden braucht. ich habe einen großen blauen fleck an meinem bein von heute mittag und denke an tobi. und ich weiss, dass sich dieser blaue fleck gelohnt hat. gute arbeit!